24. August 2016

Die Vertwitterung der Gesellschaft

"Tragisch und wir hoffen für die Verletzten. Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden???? Fragen!"   --- Renate Künast, Twitter, 19.06.16

Dieses, mitunter recht dumme, Zitat wurde nur wenige Stunden nach dem Anschlag von Würzburg auf Twitter gepostet und drückt recht unverblümt die Probleme aus, die Frau Künast generell mit der Polizei hat. Generell? Nun, in diesem Fall vermutlich schon, zumindest wenn man Frau Künasts andere Empfehlungen an die Polizei (beispielsweise Schuhe ausziehen bei Hausdurchsuchungen) so liest. Allerdings, bei aller Beißlust, muss man auch zugestehen, dass das prinzipiell eine Meinung ist, die man haben darf. Man darf Probleme mit der Polizei haben. Man "muss" es halt nur differenzierter ausdrücken. Mithin steckt das problematische an dem Twitter-Posting in seiner Undifferenziertheit, in seiner Knappheit und der mangelden Möglichkeit sich in 140 Zeichen so auszurücken, dass nicht irgendjemand etwas anderes daraus herausliest. Zur Verteidigung von Frau Künst (schreibe ich das wirklich gerade?) muss man zudem zwei Dinge anführen: Zum einen, gegen 0:22, als Frau Künast das ganze schrieb, sind die meisten Leute schon recht müde und vielleicht auch nicht mehr ganz so nüchtern, zum anderen kommt es auch vor, dass Leute auch ab und zu mal recht dumme Sachen von sich geben. Und genau um letzteres soll es an dieser Stelle gehen.
Grosse Erkenntnis, nicht wahr? Leute schreiben und sagen manchmal dumme Sachen. Ausgesprochen dumme Sachen. Fußballer beispielsweise machen geradezu eine Kunst daraus, unvergessen die große Erkenntnis von Lothar Matthäus, dass man den Sand nicht in den Kopf stecken sollte und die Kenntnisse europäischer Geographie von Andy Möller sind nach wie vor legendär. Dennoch hat man bis heute kaum einem Fußballer die kurzen Anfälle von metaler Inkontinenz verübelt. Ganz anders sieht es dagegen heute aus, wenn sich die Aussage in irgendeiner Form politisieren lässt, und die äussernde Figur angreifbar ist. Dann zeigen sich mitunter ganz andere und hässliche Effekte, die in ihrer Wucht etwa der Verhältnismäßgkeit entsprechen einen Kaugummidieb mit einer 20-mm Kanone niederzumähen.
Das oben genannte Beispiel von Renate Künast ist noch harmlos, weit schlimmer erwischte es vor nicht ganz drei Jahren die Amerikanerin Justinne Sacco, die mit kaum 50 Zeichen ("Going to Africa. Hope i don't get AIDS. Just kidding. I'm white!") ihr Leben komplett zerstörte. Der sich kaum zwei Stunden später anbahnende "Shitstorm" (wie man das neudeutsch nennt), kostete sie bereits ihre berufliche Existenz, bevor der Flieger, in dem sie sich befand, auch nur in Afrika gelandet war. Weit bekannter dagegen dürfte der Fall von Tim Hunt gewesen sein, der aufgrund eines platten Witzes seine Professur wie auch seine Position beim europäischen Forschungsrat wie auch bei der Royal Society verlor.
Beispiele gäbe es noch viele, aber immer ist das Muster gleich: Es wird eine Aussage, die in aller Regel extrem undifferenziert oder verkürzt (oftmals auch nicht besonders klug) ist, auf ein moralisches Absolutum gehoben und dann moralisch skandalisiert. Ziel ist dabei nicht mehr die Aussage, sondern die moralische Vernichtung des ursprünglich Aussagenden. Jemand macht einen Witz über Ausländer: Rassist. Jemand macht einen kritischen Kommentar über Frauen: Chauvinist. Jemand macht eine kritische Bemerkung zur Polizei: Staatsfeind. (Letzteres geht übrigens auch problemlos mit anderem Vorzeichen: Jemand verteidigt die Polizei: Anhänger des Polizeistaats.) Natürlich lässt sich aus keiner dieser Aussagen entsprechendes ableiten, aber darum geht es auch nicht: Das Urteil steht ohnehin fest und das Ziel ist die Vernichtung. Keine Verteidigung, keine Zweifel, keine Klarstellung, Vernichtung. Und man hat den Eindruck die sozialen Medien sind wie geschaffen um genau diesen Mechanismus in Perfektion umzusetzen. Bleibt einem langsamen Medium noch der Weg der Klarstellung, Gegenrede, Differenzierung, kann auf Twitter oder Facebook gleich das Urteil gesprochen werden, eine Auseinandersetzung mit einem "Rassisten, Chauvinisten, Unterdrücker, Antisemiten, Verschwörungstheoretiker, Xenophoben, Kinderfeind, Islamophoben, Populisten oder Homophoben" ist ohnehin sinnlos und auch nicht erforderlich. Man bestätigt sich gegenseitig in seinem Urteil und ist am Ende auch noch stolz darauf, wenn der oder die Betreffende möglichst nachhaltig geschädigt wird. Berufliche Vernichtung gerne genommen. Zerstörung des persönlichen Umfeldes als Bonus.

Ich finde das scheusslich. Und das ist noch harmlos gesprochen. Die sozialen Medien betätigen sich wie ein wilder und anonymer Lynchmob, vollkommen losgelöst von Verantwortung für das eigene Handeln, in tiefer Befriedigung darin dem anderen einen ordentlichen Schaden beizubringen, mit der selben Genusshaltung wie Menschen im Mittelalter sich am Pranger erfreut haben oder öffentliche Hinrichtungen genossen. Widerlich.

Dazu kommt die Absurdität zu meinen man könne aus drei Sätzen den Character eines Menschen beurteilen. Nach meiner bescheidenen Erfahrung dauert es lange, sehr, sehr lange auch nur den Character eines einzelnen Menschen kennenzulernen, und das auch nur dann, wenn man sich lange mit ihm auseinandersetzt. Den Character, das Denken eines Menschen in drei Sätzen beurteilen zu wollen ist absoluter Schwachsinn. Und es ist eine bedenklich Entwicklung, dass unsere Gesellschaft nicht nur diesem Unsinn anheim fällt, sondern auch noch meint, dass dieses Urteil dann so gerechtfertigt ist, dass man dafür die Existenz eines Menschen vernichten darf. Für eine Meinungsäusserung in 140 Zeichen. Nicht, dass es nicht Rassisten gäbe. Oder Antisemiten. Oder Anhänger von Diktatoren und Massenmördern. Es gibt das alles. Aber man kann dieses Urteil nicht auf drei Sätzen aufbauen. Campino hat mal sehr treffend bemerkt, dass nicht jeder ein Rassist ist, nur weil er mal einen Ostfriesenwitz reisst (schönen Gruss an die rheinische Post). Es wäre schön, wenn diese Selbstverständlichkeit ebenso selbstverständlich wäre, wie sie klingt. Denn ansonsten dürfen wir uns nicht wundern, wenn irgendwann die halbe Gesellschaft nur noch aus Rassisten, Frauenfeinden und sonstigen Unmenschen besteht. Oder schlimmer: Aus Menschen, die nur noch Angst haben den Mund aufzumachen, weil sie dann dafür gehalten werden könnten.

Llarian

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