3. Oktober 2016

Zum 3. Oktober: Heiße Luft über den Stammtischen

In diesem Blog hat der Kollege Andreas Döding vor kurzem erläutert, warum ihm am 3. Oktober nicht so recht zum Feiern zumute ist. Sein Argument, dass der Staat an diesem Tag sich selbst und nicht seine Bürger in den Vordergrund stellt, halte ich für schlüssig.

Nicht so recht in Feststimmung scheint auch Adrian Lobe zu geraten, der in einem auf ZEIT-Online erschienenen Beitrag mit dem Titel "Fremd im eigenen Land" das schwierige Verhältnis der Deutschen zu ihrem Nationalfeiertag und dem Konzept der Nation mit zwei großen inländischen Volksfesten thematisch in Verbindung bringt, nämlich mit dem Münchner Oktoberfest und dem Cannstatter Wasen.

Die Idee ist an und für sich nicht schlecht: In der Tat bietet sich vorderhand nichts so sehr als Symbol für das Klischeedeutschtum an wie das Bierzelt, dieser Hort alkoholgeschwängerten Frohsinns. Doch leider hält Lobes Artikel nicht das, was die ersten Zeilen versprechen. Im Gegenteil: Je mehr sich der Autor über teutonische Stereotype in Rage schreibt, umso mehr erliegt er selbst den hanebüchensten publizistischen Gemeinplätzen.
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Zutreffend macht Lobe darauf aufmerksam, dass der bayerischen Tracht (oder was dafür gehalten wird) in Stuttgart kein Heimatrecht zukommt. Dass und warum man sich auch außerhalb des Freistaats beim Volksfestbesuch in Lederhose und Dirndlgwand kleidet, hat der Kollege R.A. vor ziemlich genau einem Jahr in diesem Blog erörtert. Jedenfalls in den bayerischen Bierzelten, die der Verfasser dieser Zeilen in seiner nunmehr fernen Jugend besuchte, lautete der inoffizielle Dresscode bei allen Nichtmitgliedern eines Trachtenvereins auf Räuberzivil. Es ist schade, dass Lobe so viele Zeilen für den Hinweis auf die Ahistorizität der nun auch in Canstatt üblichen Bierzeltgarderobe ver(sch)wendet.

Ergiebiger wären die folgenden Denkansätze gewesen: Ist es nicht gerade ein Ausweis mangelnder Engstirnigkeit, wenn junge Leute ihre Festgewandung jenseits des eigenen Kirchturms und nur unter dem Aspekt der Kleidsamkeit wählen? Oder handelt es sich dabei im Gegenteil um einen besonders üblen Fall der cultural appropriation? Die letzte Frage ist keineswegs rhetorischer Natur. Denn immer wenn sich jemand kostümiert, übernimmt er auch eine - häufig sehr holzschnittartige - Rolle. Eine Bekannte des Verfassers dieser Zeilen vertritt die interessante These, dass die trachtlerische Gewandung bei denjenigen Zeitgenossen, welche ein derartiges Outfit nur gelegentlich tragen, zu einer Regression in pubertäre Verhaltensweisen führt. Wer sich als Bayer verkleidet, würde demnach unbewusst in ein Betragen verfallen, welches mit dem Klischee des sauf- und rauflustigen, groben, geistig etwas schlichten Bajuwaren konform geht.

Doch so viel Reflexion möchte Lobe sich oder seinen Lesern nicht zumuten. Vielmehr wird in erschreckender Eindimensionalität verkündet:
Volkfeste sind das Milieu, in dem man sich die gute alte D-Mark wieder wünscht, Fachgeschäfte statt Konsumtempel, Wetten, dass..? statt Facebook als Lagerfeuer der Nation.
Volksfeste werden in beträchtlichem Maße von jungen Leuten frequentiert, die sich an die D-Mark höchstens noch schwach erinnern können, die mit dem Online-Versandhandel aufgewachsen sind und denen Wetten, dass ...? schon deshalb nicht fehlt, weil sie ohnehin kein traditionelles Fernsehen konsumieren. Und woher käme die Faszination der ausländischen Gäste etwa für die Wiesn, wenn deren Fluidum nur vor dem Hintergrund einer bundesrepublikanischen 80er-Jahre-Nostalgie erfahrbar wäre?

Zur Karikatur wird Lobes Artikel dann schließlich, als er einen ungenießbaren Cocktail aus Nationalismus, Männlichkeit und zivilisatorisch wenig progressiven Verhaltensweisen mixt:
In der bierseligen Stimmung im Festzelt darf man grölen, grabschen, saufen und deutsches Liedgut brüllen, ohne sich gleich des Verdachts des Nationalismus ausgesetzt zu sehen. Es ist neben dem Fußballstadion eines der letzten Refugien der Männlichkeit, das den Normen und Sitten des Alltags fast vollständig enthoben ist.
Dass in jedem Kleinstadt-Bierzelt ein Wachdienst anwesend ist, dass es eine Aktion "Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen" gibt, dass die weibliche Bevölkerung einen beträchtlichen Anteil an den Volksfestbesuchern bildet, all das scheint der ZEIT-Autor nicht zu wissen oder ihn nicht zu kümmern.

Da ist es auch nicht mehr erstaunlich, wenn Lobe seine Ausführungen mit dem Argument zu untermauern versucht, dass Dirndl "die Verniedlichungsform von Dirne" sei. Bei so viel Unkenntnis der Sprachentwicklung - bestimmte deutsche Dialekte, darunter der bairische, haben an der Pejoration der Bedeutung des hochsprachlichen Lexems nicht teilgenommen -  würde man sich nur noch wünschen, dass ein des hansestädtischen Idioms mächtiger Mitarbeiter der ZEIT seinem Journalistenkollegen erklärt, dass eine Hamburger Deern nicht zwingend im horizontalen Gewerbe arbeitet.

Wer eine Bezugnahme auf die Rechtspopulisten vermisst, ohne die ein Text wie der hier besprochene in seiner gedanklichen Monotonie kaum stimmig wäre, wird von Lobe nicht enttäuscht:
Vielleicht liegt im Boom der Bierzelte auch der Erfolg der AfD (ohne beides gleichsetzen zu wollen) begründet, die einen Rückzug ins Private propagiert und ein tradiertes Familienbild und Rollenverständnis vertritt. Die Parolen, die im Bierzelt, der Arena der Männlichkeit, und auch außerhalb gegrölt werden, sind mit dem Parteiprogramm der AfD durchaus kompatibel.
Na endlich, möchte man fast aufseufzen. Warum ist der Autor des ZEIT-Artikels nicht mit weniger Vorbereitungsaufwand zu diesem Punkt gekommen? Gleichwohl hofft man immer noch, dass sich der Beitrag als Satire oder Parodie auf die Ressentiments der vorgeblich Ressentimentfreien zu erkennen gibt. Derartiges bleibt Lobe jedoch schuldig. So verstörend dies ist, aber offenbar hat er seinen Text tatsächlich ernst gemeint.

Nun weiß der Verfasser dieser Zeilen aber, warum ihm heute doch zum Feiern zumute ist: Er empfindet Dankbarkeit dafür, in einem Land zu leben, in dem die Presse- und Meinungsfreiheit ein Pamphlet wie das vorstehend diskutierte unter Schutz stellt und in dem es ihm das letztgenannte Grundrecht gestattet, das in den Brunnen gefallene Kind beim Namen zu nennen.

Noricus

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