12. November 2016

Von der kulturellen Hegemonie der Grünen und der Zerstörung der Gesellschaft

Eine typisch deutsche Feuilleton-Debatte lässt sich in einem Satz resümieren: Jemand schreibt das Offensichtliche und löst damit einen Sturm im Wasserglas aus. Giovanni di Lorenzo, seines Zeichens Chefredakteur der ZEIT, sinniert in der Ausgabe Nr. 40/2016 des Hamburger Wochenblattes über die "kulturelle Hegemonie" der Grünen und erntet dafür eine Woche später regen Widerspruch von Renate Künast (ZEIT Nr. 41/2016). Die Behauptung, der Erfolg der AfD stehe mit dem Ergrünen der deutschen Gesellschaft im Zusammenhang, weist die ehemalige Bundesministerin vehement zurück.

(Der guten Ordnung halber ist zu betonen, dass di Lorenzos Reflexionen nicht ohne Vorläufer sind. Alexander Marguier hat im CICERO bereits dreieinhalb Jahre früher über die heimliche Herrschaft der Grünen nachgedacht. Jedenfalls in diesem Blog blieb dies nicht unbemerkt.)

Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT, springt in deren Ausgabe Nr. 43/2016 seinem Vorgesetzten zur Seite und benennt das besonders Ungenießbare an Künasts Gestus, nämlich die Attitüde, sich - obschon lupenreine Vertreterin des Establishments - zur Rebellin gegen eine angeblich weiterhin latent vorhandene Rechtslastigkeit ihrer Mitbürger zu stilisieren. Andererseits: In gewisser Weise bilden die Grünen immer noch eine Minderheit. Denn wie bei jeder dominanten Ideologie ist die strenge Observanz die Sache Weniger; die Vielen nehmen ob ihrer Schwachheit mit einer verwässerten Version vorlieb. Dies mag auch ein Grund dafür sein, weshalb die grüne Lufthoheit über den Köpfen in nicht allzu ferner Zukunft in Gefahr geraten könnte.
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Wenn CSU-affine Mütter aus der bayerischen Provinz ihre Kinder mit Kost aus dem Bioregal ernähren, wenn Atomkraft und Gentechnik flächendeckend für Teufelszeug gehalten und astronomische Preise für Strom und Kraftstoff in Kauf genommen werden, wenn eine staatlich verordnete Mülltrennungsliturgie weitgehende Beachtung findet - und dies ist in Deutschland alles der Fall - , braucht man über den Status quo der kulturellen Hegemonie der grünen Ideologie nicht zu diskutieren.

Die Gründe für diese Entwicklung werden in den verlinkten Beiträgen zum Teil korrekt genannt. Erstens verdankt die Ökodenke ihren Erfolg ihrer Akzeptanz bei gesellschaftlichen Gruppen, die das kollektive Bewusstsein maßgeblich beeinflussen, nämlich bei Akademikern, Medienschaffenden, Künstlern, Staatsdienern (darunter insbesondere auch Lehrern), Kirchenleuten und - last, but not least - Frauen. Im Allgemeinen sind es immer noch die Mütter, Ehegattinnen oder Lebensgefährtinnen, die in einer Familie beziehungsweise Bedarfsgemeinschaft den alltäglichen Lebensstil bestimmen, also entscheiden, was auf den Tisch oder in den Kleiderschrank kommt, und die das zwischen den vier Wänden herrschende geistige Klima prägen.

Zweitens bedient die grüne Ideologie mit ihrer Mischung aus Angstschürerei und Moralpusseligkeit die beiden für die politische Stimmung in diesem Land entscheidenden Parameter. Drittens ist der alternative Ungeist mit den unvergänglichen Idiosynkrasien des deutschen Seelenlebens kompatibel. Er greift ohne das sonst übermächtige Problembewusstsein so manches Thema mit unseliger Tradition auf. Der Blockwarttypus, den es in jedem Mehrparteienhaus gibt, findet in der Überwachung der ordnungsgemäßen Mülltrennung eine positiv konnotierte Spitzeltätigkeit. Naturschutz, Biolandwirtschaft und lebensreformerische Ideen standen auch bei denen, welche die Grünen als ihre Antipoden betrachten, hoch im Kurs.

Letztlich weist die grüne Ideologie eine seltsame Gebrochenheit auf: Einem kleinkindlich naiven Fortschrittsoptimismus in gesellschaftlichen Dingen stehen ein fundamentaler Skeptizismus hinsichtlich technischer Neuerungen und psychologisch ebenso auffällige apokalyptisch-eschatologische Visionen gegenüber. Vorderhand erscheint die Annahme plausibel, dass das Negativistische an der grünen Ideologie, also die Technikfeindlichkeit und die kollektive Angstneurose, diesem Land mehr geschadet habe als die doch eigentlich begrüßenswerte Aufbruchsstimmung in sozialen Belangen.

Der Verfasser ist diesbezüglich jedoch anderer Ansicht. Die Folgen des grünen Gesellschaftsexperiments werden auf lange Sicht deutlich kostspieliger sein als der ökonomische Schaden, der etwa durch die Energiewende einzutreten droht. Die Modernisierung im zwischenmenschlichen Bereich hat nämlich dazu geführt, dass an zwei für die Stabilität einer Gesellschaft wesentliche Institute die Axt angelegt wurde, nämlich an das Ideal lebenslanger monogamer Partnerschaften und an die Gewissenspflicht der individuellen Hilfsbereitschaft.

Michel Houellebecq, und schon deshalb ist er ein großer Schriftsteller, diagnostiziert und beschreibt in seinen Romanen völlig zutreffend, dass im postmodernen Westen das Wettbewerbs- und Leistungsprinzip von der Wirtschaft auf das Feld der Sexualität und der Liebesbeziehungen übertragen wurde. Der Kapitalismus, der sich auch an eine rigide Moral anzupassen vermag, ist dafür nicht verantwortlich. Es ist dies vielmehr ein Ausfluss des 68er-Hedonismus, der durch Vermittlung der grünen Ideologie in der Mitte der Gesellschaft salonfähig wurde.

Freilich: Optimierungsgedanken waren der Eheanbahnung noch nie fremd. Das Wort von der guten Partie haben ja nicht die Grünen erfunden. Sie haben jedoch den Glauben an das Ideal zerstört, dass eine einmal getroffene Vermählungsentscheidung von lebenslanger Bestandskraft sein sollte. Eine Scheidungsquote von circa 40 Prozent belegt dies deutlich. Die Trennungszahlen bei nichtverheirateten Paaren werden kaum geringer sein. Ziel ist die Selbstverwirklichung in der Partnerschaft. Und wenn diese mit dem alten Gespons nicht mehr funktioniert, sucht man sich ein neues. Für den Einzelnen mag dies zunächst - jedenfalls bis zum Absturz in den Mahlstrom aus Unterhalts- und Ausgleichszahlungen und dem Gezerre um die Kinder - als der richtige Schritt erscheinen. Für die Gesamtgesellschaft ist jedoch eine verheerende Desintegrationswirkung zu befürchten, wenn die Institute Ehe und Familie, also auf Verbindlichkeit angelegte Strukturen, zu unverbindlichen Lebensabschnittsaccessoires entstellt werden.

In seiner Tragweite noch bedeutsamer ist wohl der durchaus despotische Züge aufweisende Paternalismus, der mit der grünen Mentalität in der politischen Landschaft mehrheitsfähig geworden ist. Alles Gute hat von oben, nämlich vom Staat, zu kommen. Individuelle Hilfsbereitschaft ist des Klientelismus verdächtig. Steuermilliarden werden niemandem weggenommen, da sie ja hierzulande erwirtschaftet werden. Einkommen und Vermögen des Bürgers sind gleichsam ansprüchige Sachen zugunsten der Gemeinschaft. Nur was der Staat übriglässt, gehört dem Einzelnen. Und es ist natürlich der Staat, der über die Verteilung der Mittel befindet. Eine Steuerzahlung kann ja gerade nicht einem bestimmten Zweck gewidmet werden. Ist es zu verschwörungstheoretisch gedacht, dass die Abgabenlast hierzulande deshalb ohne Not extrem hoch gehalten wird, um es dem Bürger zu erschweren, in Konkurrenz zu der volkstribunengleichen Gönnerhaftigkeit der Politik zu treten?

Alle großen Religionen haben das Almosengeben beziehungsweise die Hilfe für die Armen und Schwachen als Pflicht des Einzelnen statuiert. Sankt Martin, dessen wir gestern gedachten, teilte seinen Mantel mit dem Bettler, das heißt, er schnitt seinen Umhang entzwei. Heutzutage bedeutet "teilen" im Jargon der sozialen Medien, etwas weiterzugeben, ohne es selbst zu verlieren. Für alles andere hat sich der Staat zuständig gemacht.

Noricus

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