1. Juni 2017

Fußnoten zum Begriff der Leitkultur

In unregelmäßigen Abständen führt das Bundesbauerntheater einen Schwank in zwei Akten namens „Leitkulturdebatte“ auf. Dramatis personae sind nach guter altaltgriechischer Art neben einem einzigen Schauspieler nur die Mitglieder des Chores. Im ersten Aufzug tritt der stets schwarz gekleidete Protagonist auf die Bühne und deklamiert in hartem Stakkato seine Forderung nach einer (an dieser Stelle gestattet das Stück improvisatorische Freiheit) deutschen, europäischen, abendländischen, christlichen oder christlich-jüdischen Leitkultur. Den zweiten Akt füllt das näselnde Lamento des Chores aus linken Parteien, Multikulti-Lobbyisten und Medienvertretern, die den rechten, ja faschistischen Charakter des Monologes des düster gewandeten Hauptdarstellers rügen und dem Publikum mit der Subtilität eines Knallchargen versichern, das Grundgesetz reiche zur Lösung der Integrationsfrage völlig aus.
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Wenn Ihnen der despektierliche Ton des ersten Absatzes dieses Beitrags aufstößt, lieber Leser, weil es sich bei der Diskussion um die „Leitkultur“ doch eigentlich um ein wichtiges Thema handelt, so muss Ihnen der Verfasser dieser Zeilen beipflichten. Und genau deshalb ist es so verdrießlich, dass diese Debatte nur zu leicht durchschaubaren Wahlkampf- oder Profilierungszwecken geführt und dann wieder in der Requisitenkiste verstaut wird.

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Eine freie Gesellschaft ist notwendigerweise diversifiziert und in gewissem Maß auch desintegriert. Wo Menschen, ohne in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden, ihre Wahl treffen können, entscheiden sie sich ihren Vorlieben und Vorstellungen gemäß. Ist nun wirklich das Grundgesetz, wie uns der linke Chor weismachen möchte, der Mechanismus, der diese kleine deutsche Welt im Innersten zusammenhält?

Eine Gesellschaft, die sich über die Verfassung des Staates streitet, ist selbstverständlich in hohem Maße instabil. Das hat man in Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik gesehen. Das zeigt sich jetzt in der Türkei und vielleicht auch in der Europäischen Union, deren endemische Krise man durchaus als eine Verfassungskrise verstehen kann. Aber wie soll das Grundgesetz, das im Wesentlichen aus Bestimmungen zur Staatsorganisation und den Grundrechten besteht, zur Integration der Gesellschaft beitragen, zumal diese Grundrechte doch in ihrer Mehrzahl liberale Abwehrrechte und somit letztlich das Rüstzeug gegen ein Zuviel an hoheitlichen Integrationszumutungen darstellen?

In einem Gastbeitrag für die FAZ nimmt der Historiker Jörg Baberowski (der linke Chor wird allein bei der Nennung dieses Namens aufheulen) zu der hier interessierenden Frage wie folgt Stellung:

Gemeinsam Erlebtes, Gelesenes und Gesehenes – das war der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft einmal zusammengehalten hat.

In demselben Artikel spricht Baberowski von einem „Überlieferungszusammenhang“? Was ist dieser Überlieferungszusammenhang, dieses gemeinsam Erlebte, Gelesene und Gesehene denn anderes als die Kultur, die Leitkultur eines Volkes?

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Wenn der linke Chor den Eindruck erweckt, schon den Begriff einer Leitkultur und nicht nur deren konkrete Ausprägung abzulehnen, so ist dies im besten Fall unaufrichtig. Alle totalitären Bewegungen seit den Jakobinern haben versucht, dem von ihnen beherrschten Land ihre eigene Leitkultur aufzudrücken. Bei den französischen Revolutionären – die man mit der dem Verfasser eigenen Boshaftigkeit als Kollateralschäden der Aufklärung bezeichnen könnte – manifestierte sich dies zum Beispiel in der Einführung der angeblich so mathematisch-vernünftigen Zehn-Tage-Woche und in bizarren Tendenzen der Rationalisierung der französischen Sprache.

Es gibt ihn freilich auch heute noch, diesen missionarischen Eifer, die Leitkultur einer Gesellschaft auf dem Reißbrett zu verändern: Das Streben nach der Durchsetzung des links-grünen Weltbildes, wie es hierzulande nicht nur von den betreffenden Politikern und Lobbyisten, sondern auch von einer Vielzahl von Künstlern, Journalisten und Universitätslehrern betrieben wird, dieses seltsame Amalgam aus politischer Korrektheit, Gender-Mainstreaming, critical whiteness, Ökologismus, Kampf gegen Rechts und dergleichen, kann kaum anders denn als der Versuch einer forcierten Transformation der Leitkultur verstanden werden. Es ergießt sich über uns alter Wein aus neuen Schläuchen.

Noricus

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