21. September 2017

秋歌之。Qiūzhī gē, Das Lied vom Herbst

Zwar steht der astronomische Herbstanfang, der sich der genauen Ausrichtung des Erdäquators aufs Zentralgestirn verdankt, strenggnommen erst am morgigen Tag ins Haus, doch sei die Gelegenheit hiermit beim Schopf genommen, einige Verse zu zitieren, die sicher zu den berühmtesten der deutschsprachigen Literatur zählen: Rainer Maria Rilkes "Herbsttag", heute vor genau 115 Jahren in Paris niedergeschrieben während seiner Zeit als Sekretär Rodins und genau zehn Tage nach der Entstehung seines anderen bekannten Gedichts zum gleichen Thema, "Herbst" ("Die Blätter fallen, fallen wie von fern / als welkten in den Himmeln ferne Gärten...") und im gleichen Jahr in der ersten Fassung des Buchs der Bilder veröffentlicht.

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Das Gedicht dürfte neben dem ebenfalls in Paris entstandenen "Panther" das einzige sein, das in seiner Gesamtheit, und nicht als zum Zitat geronnenen Fragment ("du mußt dein Leben ändern") ins kulturelle Gedächtnis der Deutschen - oder vielleicht sollte man sagen: der Deutschsprachigen - eingegangen sein. Dazu beigetragen hat zweifellos die knappe Diktion und die transparente Verständlichkeit der Verse - im Gegensatz zur so oft bei Rilke vorkommenden Verschlingung eines verrätselten Gedankens in ein Gestrüpp von Bezügen und scheinbar unverbundenen Epitheta, durchschossen von den Dornen einer "O Mensch!"-Emphase, die beim Leser etwa der Duineser Elegien oder der Sonette an Orpheus den Eindruck hinterlassen kann, man stünde vor dem sprachlichen Pendant einer Dornenhecke vor einem Dornröschenschloß  - nur daß dort die Befürchtung nicht fern liegt, dahinter verberge sich kein verwunschener Sinn, den die Mühe des Sicheinlassens aus dem zeitlosen Schlaf zwischen ungeöffneten Buchdeckeln wieder zu quecksilbrigem Leben erweckt, sondern nur Leere und das rissig gewordene Parkett eines einstmals poliert schimmernden Hohen Stils.

Anders als manche Gedichte Rilkes haben sich diese Verse in der Übersetzung nicht gut transponieren lassen. Es mag erstaunlich klingen, aber der Fall ist nicht selten, daß Übertragungen in fremde Zungen, gerade bei gebundener Lyrik, die Qualität des Originals hinter sich läßt: weil die Reime glatter zusammenpassen, weil Elisionen und "poetische" Diktion, also Versündigungen gegen Grammatik und Syntax, die erstaunlicherweise im Deutschen als Kennmerk guter Dichtung gelten, fortfallen. (Noch erstaunlicher ist das, daß daß sich aus dem Fundus der deutschen Lyrik ausgerechnet Morgensterns "Galgenlieder" als dankbarstes Objekt erwiesen haben - und es wohl mehr als ein Dutzend rundum gelungene Nachdichtungen des "Werwolfs" gibt - ins Englische, Französische, Italienische und Russische - den man auf den ersten Blick aufgrund seiner Sprachspielereien für völlig unübersetzbar halten möchte.) James Blaire Leishmans englische Fassung von "Autumn" -

The leaves are falling, falling as from far
as though above were withering heavenly gardens;
they fall with a deying attitude.

And night by night, down into solitude
the heavy earth falls far from every star.

- läßt das Original wie eine schlechte Übertragung aus dem Englischen erscheinen. Seine Fassung des "Autumn Day" hingegen ist ... man muß es selbst gesehen haben, um das Zusammenzucken durchzumachen, das einen sensiblen Rezipienten dabei beutelt. Deshalb sei an dieser Stelle ein Vollzitat verstattet:

Autumn Day

Lord, it is time. The summer was so great.
Impose upon the sundials now your shadows
and round the meadows let the winds rotate.

Command the last fruits to incarnadine
vouchsafe, to urge them on into completeness
just two more south-like days; and that last sweetness,
inveigle it into the heavy vine.

He'll build not now, who has no house awaiting.
Who's now alone, for long will so remain:
sit late, read, write long letters, and again
return to restlessly perambulating
the avenues of parks when leaves downrain.

*Ouch* Natürlich überrascht es nicht, daß auch dieses Gedicht zumindest eine gelungene Parodie nach sich gezogen hat - wenn auch Rilke nicht zu den Dichtern gehört, die, als dergleichen noch im Schwang war, häufig zur Zielscheibe wurden. (Das meistparodierte deutsche Gedicht dürfte bekanntlich Schillers "Glocke" sein.) Es handelt sich um einen Zufallsfund, vor 20 oder 25 Jahren flüchtig gelesen, so daß sich der Protokollant nicht mehr an den Namen des Parodisten entsinnt und nicht an den buchstabengetreuen Wortlaut; aber diese einmalige Lektüre hat sich so in seinem Gedächtnis verhakt, daß er für die Richtigkeit von mindestens sechs Zeilen sein Wort geben kann:

Herr, ist wird Zeit: der Sommer war nicht groß. / Betrunkne drehen wieder an den Uhren / und auf den Fluren lassen sie die Winde los. // Befiehl den letzten Früchtchen, voll zu sein, / gib ihnen ein paar südlichere Tritte / und jag sie in die Heia hin. Ich bitte / die letzte Süße heim zu schwerem Wein.

Von den Übersetzungen, die man als gelungen betrachten kann, scheint nur die italienische durch Giame Pintor es geschafft zu haben, das Reimschema der Vorlage zu bewahren:

Giorno d'autunno

Signore: è tempo. Grande era l’arsura.
Deponi l’ombra sulle meridiane,
libera il vento sopra la pianura.

Fa’ che sia colmo ancora il frutto estremo;
concedi ancora un giorno di tepore,
che il frutto giunga a maturare, e spremi
nel grave vino l’ultimo sapore.

Chi non ha casa adesso, non l’avrà.
Chi è solo a lungo solo dovrà stare,
leggere nelle veglie, e lunghi fogli
scrivere, e incerto sulle vie tornare
dove nell’aria fluttuano le foglie.

Auch Antonio Pau verzichtete 2006 bei seiner spanischen Fassung auf den Reim:

Quien ya no tiene casa, no la construirá.
Quien ahora está solo, lo estará mucho tiempo.
Velará, leerá, escribirá largas cartas
e irá por los paseos, deambulando
de un lado a otro, mientras las hojas caen.

Die russische Version von M. Goreluk aus dem Jahr 2000 schafft es auch, Verslänge und Metrum (neben dem Reimverzicht, der für russische Lyrik eine Todsünde darstellt) in Grund und Boden zu reiten:

Подстрочный перевод:

Господь, пора. Лето было огромно.
Положи свою тень на солнечные часы
и выпусти на поля ветра.

Прикажи последним плодам созреть;
дай им еще два дня поюжнее,
поторопи их с завершением и вгони
последнюю сладость в тяжелый виноград.

У кого теперь нет дома, уже не построит его.
Кто теперь одинок, тот одинок надолго,
не будет спать, будет читать, писать длинные письма
и по аллеям туда-сюда
беспокойно бродить, когда кружатся листы.

während sowohl Metrum als auch Reim in dieser chinesischen Fassung gewahrt bleiben, die 2011 (passenderweise am 20. September) von einer Userin unter dem Signum elisabeth im Literaturforum bokane.org eingestellt wurde:

秋日

主啊
时已至 夏无殇
刻影仪晷上
扬风在草场

催生果实于藤间
再给它两日南方的天
熟硕得只为
醇醪最后的甘甜

失所者注定流离
孤独者久无所依
便醒着 读着 写着长信
踟蹰在公园的小径上
叶自飘零

zhǔ a ("a" ist, wie im Deutschen, die Interjektion des Erstaunens; "zhǔ" = (ein) Gott; auch, dank der fehlenden Flektion des Chinesischen, mehrere oder die Götter überhaupt)
shí yǐ zhì xià wú shāng
kè yǐng yí guǐ shàng
yáng fēng zài cǎochǎng

cuīshēng guǒshí yú téng jiān
zài gěi tā liǎng rì nánfāng de tiān
shú shuò dé zhǐ wèi
chún láo zuìhòu de gāntián

shīsuǒ zhě zhùdìng liúlí
gūdú zhě jiǔ wú suǒ yī
biàn xǐngzhe dúzhe xiězhe zhǎng xìn
chíchú zài gōngyuán de xiǎojìng shàng
yè zì piāolíng

Zur akustischen Begleitung seien drei Stücke ausgewählt. Zum einen 秋夜, Qiū yè, "Herbstnacht", zuerst 1947 von Bai Guang aufgenommen, in einer unplugged Jazz-Fassung von Tsai Chin aus dem Jahr 2004 - der durch die sparsame Instrumentierung, durch die Reduzierung auf Gitarre und Singstimme genau jenes impressionistisch Hingetupfte eignet, das den "klassischen" Stücken zur Einstimmung auf die Zeit der fallenden Blätter wie etwa Kurt Weils "September Song" ihr unverbrüchliches Flair verleihen.




我愛夜  我愛夜  更愛皓月高掛的秋夜

幾株不知名的樹  已脫下了黃葉

只有那兩三片  多麼可憐在枝上抖怯

它們感到秋來到  要與世間離別

一片片緊抱枯枝 孤零零向月哀唱

一陣陣無情西風  又幾片飄落地上

只有那兩三片  多麼可憐在枝上抖怯
它們感到秋來到  要與世間離別
嗯~~ 嗯~~  更愛皓月高掛的秋夜
幾株不知名的樹  已脫下了黃葉
只有那兩三片  多麼可憐在枝上抖怯
它們感到秋來到  要與世間離別
一片片緊抱枯枝 孤零零向月哀唱
一陣陣無情西風  又幾片飄落地上
我愛夜  我愛夜  更愛皓月高掛的秋夜
幾株不知名的樹  已脫下了黃葉 嗯~~~~

Wǒ ài yè / wǒ ài yè / gèng ài hàoyuè / gāo guà de qiū yè

Ich liebe die Nacht, ich liebe die Nacht, aber ich liebe die Mondnächte im Herbst noch mehr
ein paar Bäume haben schon ihre gelben Blätter verloren
und nur noch zwei oder drei zittern an den Ästen.
Sie wissen, daß es an der Zeit ist, die Welt zu verlassen
weil sie den Herbst kommen fühlen.
Jedes Blatt hängt von seinem verdorrten Zweig und bleicht aus unter dem Mond.
Der Westwind bläst ohne Unterlaß, und Blatt um Blatt fällt zu Boden. (3x Wiederholung, ab libitum)

Julie Yeh Feng hat das Lied Jahrzehnte vorher, Ende der sechziger Jahre, in einer mitreißenden Rumba-Phrasierung gesungen - auch wenn diese schmissige Synkopierung so gar nicht zum Duktus des Liedtextes passen will - und vielleicht gerade deshalb das Hörvergnügen befeuert.




Hier die originale Aufnahme des Titels durch Bai Guang, das "Weiße Licht," von 1947 (Text und Melodie stammen von Yang Yangqi, 1920-1978) - ein Hörbeispiel, das den Shidaiqu, dieses Amalgam aus westlicher Jazzintonation und chinesischer Tradition der 1930er und 1940er Jahre in Shanghai, auf seiner höchsten Blüte zeigt: die Instrumentierungen reich, Text und Musik souverän und der Gesangsstil den westlichen Modellen in nichts nachstehend.


Das zweite Stück stammt von Sun Lu, einem Popstar, beziehungsweise einer Singer-Songwriter... (wie soll man in diesem Fall sagen?) ...Persönlichkeit, 1986 in Liaoning geboren: 离别的秋天, Líbié de qiūtiān, "Abschied im Herbst", von ihrer dritten CD, 寂寞思情, Jìmò sī qíng, "Einsame Gedanken," von 2008.




轻轻柔柔的风 吹过我的胸口
你我却站在这离别的路口
没有一句挽留 没有一句借口
只有影子在随着那时间游走

我们的昨天太短 等不到天长地久
我们的明天太远 换不来幸福相守
离别的天 灰色的蓝 承载着我的旧梦
挥别的手 再多温柔 握不住心里的痛

我的明天 是哪一天 我才能停止想念
忘了时间 忘了昨天 爱与恨不再重演
没有一句挽留 没有一句借口
只有影子在随着那时间游走

我们的昨天太短 等不到天长地久
我们的明天太远 换不来幸福相守
离别的天 灰色的蓝 承载着我的旧梦
挥别的手 再多温柔 握不住心里的痛

我的明天 是哪一天 我才能停止想念
忘了时间 忘了昨天 爱与恨不再重演
离别的天 灰色的蓝 承载着我的旧梦
挥别的手 再多温柔 握不住心里的痛

我的明天 是哪一天 我才能停止想念
忘了时间 忘了昨天 爱与恨不再重演
忘了时间 忘了昨天 爱与恨不再重演

In meiner Brust fühle ich nur einen Windhauch
Wir stehen hier beide am Scheideweg
Es gibt nichts, was übrigbleibt
Was uns verband, ist nur noch ein Schatten.

Das Gestern war zu kurz, um uns auszufüllen.
Das Morgen zu weit vor uns, um etwas zu ändern.
Mein alter Traum bleicht so aus wie der blaßgraue Himmel
Es bleibt keine Hand, die meinen Schmerz auffängt.

Mein Tag dämmert erst wieder, wenn die Leere vorbei ist
Wenn die Zeit stehenbleibt, damit das Gestern nicht mehr besteht
Wenn der Kreis aus Liebe und Haß sich nicht mehr wiederholt
Was zwischen uns war, ist nur noch ein Schatten.

Zuguterletzt: es gibt tatsächlich ein kleines chinesisches Liedchen mit dem Titel "Herbstlied" - 秋之歌: Grace Chang (chinesischen Zuschauern und -hörern als Ge Lan geläufig) hat es 1959 im Film 龍翔鳳舞, Fliegender Drache und tanzender Phönix, gesungen.



Und an dieser Stelle muß der Referent ein déjà entendu beim ersten Anhören eingestehen: diese Melodie kenne ich doch? Aber sicher. Nur: woher? Welches Stück ist dies genau? Der YouTube-Kommentar löst das Rätsel auf: es handelt sich, mit leichten textlichen Variationen, um das Stück 秋的懷念, Qiū de huáiniàn, "Herbstsehnsucht," das Yao Li, 姚莉 (geboren 1922 und die mittlerweile 95 Jahren die einzige noch lebende der "sieben singenden Sterne" des Shaidaiqu), die "silberne Stimme", in erheblich anderem Tempo zehn Jahre zuvor aufgenommen hat.



秋靜靜地徘徊,靜靜地徘徊
紅葉為它塗胭脂,白雲為它抹粉黛
秋靜靜地徘徊
(秋靜靜地徘徊,靜靜地徘徊)
紅葉為它遮煩惱,白雲為它掩悲哀
秋靜靜地徘徊
它永遠懷念,永遠懷念,懷念著代代慈祥的草原
它永遠懷念,永遠懷念,懷念著年年可戀的村間
秋靜靜地徘徊,靜靜地徘徊
紅葉為它塗胭脂,白雲為它抹粉黛
秋靜靜地徘徊

Der Herbst wandert über das Land, zieht sachte durchs Land
Die Blätter schminkt er mit Rouge
Und die weißen Wolken tragen weiß auf
Und der Herbst wandert durchs Land
Die roten Blätter verbergen seine Sorgen
Und die weißen Wolken verstecken seine Traurigkeit
Der Herbst geht sachte durchs Land
Und er wird sich immer erinnern






Ulrich Elkmann

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.