1. Oktober 2017

Kurs auf den Eisberg. Wie sich Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit die Schwampel zurechtphantasieren

Wie vom Verfasser dieser Zeilen erwartet, werden in den Medien die Trommeln für eine mögliche Schwampel-Koalition auf Bundesebene bereits kräftig gerührt. Der Cicero bildet einmal mehr die löbliche Ausnahme. In der als liberal-konservativ taxierten WELT delektiert sich hingegen Alan Posener unter Beigabe einiger Kalauer an seiner prophetischen Gabe, die soziokulturellen Grundlagen des in Aussicht genommenen Bündnisses schon vor 13 Jahren erkannt zu haben, und fordert die Protagonisten auf, nun endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Ulf Poschardt, Chefredakteur des gennanten Springer-Blattes, verkündete am 12.09.2017 noch dezidiert, Jamaika sei "nichts" und "tot", um es 17 Tage später nur noch "irre" zu finden, dass jetzt plötzlich alle das schwarz-gelb-grüne Bündnis herbeisehnen, wobei der Ton des Beitrags die Befürchtung nährt, dass sich Poschardt von der Euphorie für die offensichtliche Mésalliance anstecken lassen könnte. (Randbemerkung: Beim Anblick der im letztverlinkten Artikel enthaltenen Porträtfotos Özdemirs und Lindners musste der endunterfertigte Autor an diese Reflexion Zettels denken, die unverändert Gültigkeit besitzt.)

Die TAZ scheint vor allem zu beschäftigen, dass die Grünen vielleicht zu sehr in ihrer ressentimentgeladenen Selbstgerechtigkeit verhaftet sind, um sich mit der Union und der FDP zu vermählen, wobei die Aussage des Soziologen Armin Nassehi, die Konservativen machten alles schlimmer, falls sie nach rechts rückten, widerspruchslos zitiert wird. Anders formuliert: Eine Schwampel-Koalition ist nur denkbar und wünschenswert, wenn sie Merkels alternativlose Politik unverändert fortsetzt. Dass man zu diesem Zweck eine Crew ins Boot holen muss, deren Stallgeruch nicht in jedem Einzelfall mit dem Biomarkt-Biedermeier harmoniert, ist die ästhetische Kröte, die es dabei zu schlucken gilt.
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Scheinbar weit weniger aus der gentrifizierten Filterblase und dem akademischen Elfenbeinturm heraus, sondern bei der ersten Annäherung geradezu nüchtern argumentieren Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit in ihrem auf ZEIT-Online erschienenen Gemeinschaftswerk "Fahrplan für eine Seereise": Jetzt hätten wir nun einmal dieses ungeliebte Wahlergebnis, und die Akteure der prospektiven Schwampel-Koalition sollten sich im Sinne der "politische[n] Klarheit in und aus Deutschland" schnell auf eine Regierungsbildung einigen; inhaltlich reiche einstweilen eine grobe Orientierung, die Details könnten und müssten vorerst offenbleiben.

Diese Quintessenz mutet schon deshalb abenteuerlich an, weil die Stimmberechtigten am 24.09.2017 dem Prinzip Merkel, wonach programmatische Zuverlässigkeit nebensächlich ist, weil deren Mangel mit persönlichem Kredit überbrückt wird, eine mehr als deutliche Absage erteilt haben. Zudem setzen die von Leggewie und Cohn-Bendit empfohlenen Leitlinien ein europäisches Einvernehmen voraus, das es gegenwärtig nicht gibt und in absehbarer Zeit nicht geben wird und das jedenfalls in einigen Punkten ohne Schaden für Deutschland nicht herzustellen ist.

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Doch nicht nur diese von den beiden Autoren skizzierte Marschrichtung, sondern auch die meisten ihrer inhaltlichen Rahmenvorstellungen haben etwas Befremdendes an sich. Wobei auch für Amüsement gesorgt ist, denn Leggewie und Cohn-Bendit reißen eingangs ihres Textes den besten politischen Witz, den der Verfasser dieser Zeilen in den letzten Jahren vernommen hat:
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron will uns nicht ans Portemonnaie.
Es gehört schon ein gerüttelt Maß an selektiver Wahrnehmung oder naiver Euro-Tümelei dazu, einen solchen Satz ohne Schamesröte zu Bildschirm zu bringen. Das Unbehagen, dass Macron, Juncker und auch Draghi aus der Europäischen Union, die als Freizügigkeitsraum für Leistungsträger gedacht war (und als solche nach Ansicht des Verfassers zu befürworten ist), endgültig eine Schulden- und Transfergemeinschaft machen möchten, liegt demgegenüber weitaus näher an der Realität. Wenn die neue Bundesregierung, von wem auch immer sie gestellt wird, als Retter des kontinentalen Staatenverbundes in die Geschichte einzugehen trachtet, wird sie sich Macrons Plänen mit aller Entschiedenheit entgegenstellen müssen.

Während die heimische Multiplikatorenklasse ohne weiteres bereit ist, eigene Interessen hinter jene der anderen zu stellen, ist so viel Altruismus seitens der näheren und ferneren Nachbarn nicht zu erwarten. Deshalb wird die Energiewende, die laut Leggewie und Cohn-Bendit "nur europäisch gelingen kann", ein deutscher Sonderweg bleiben. Das Gros der Mitgliedstaaten der Union ist sicher nicht bereit, sich ein Milliardengrab zu schaufeln, nur um bundesrepublikanischen Befindlichkeiten Rechnung zu tragen.

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Die Vorschläge zu einer Reform des Wahlrechts bezüglich des Europäischen Parlaments und zur Rolle Europas in der Welt mögen zwar teilweise schön klingen, berühren aber nicht die wahren Probleme.

In seinem durchaus auch von Martin Schulz geprägten Selbstverständnis betrachtet sich das Europäische Parlament nämlich weniger als Vertretung der Unionsbürger denn vielmehr als Promoter einer Eliten-Idee von der Zukunft des Kontinents. Solange die Abgeordneten nicht konsequent von der ihnen durch den Vertrag von Lissabon verliehenen Macht Gebrauch machen, sondern sich zu Akklamationsorganen für die Vorschläge der Kommission degradieren, wird eine Wahlrechtsreform demokratische Kosmetik bleiben. (Dass in einigen EU-Mitgliedstaaten, insbesondere auch im Deutschland der letzten vier Jahre, ein ähnlicher Verfall der parlamentarischen Kultur zu verzeichnen ist, sei nicht verschwiegen.)

Dass sich Europa bei der Verfolgung seiner Sicherheitsinteressen nicht einzig und allein auf seine Schutzmacht USA verlassen darf, hat nichts mit Trump zu tun, sondern ist ein seit geraumer Zeit aktuelles Thema, das unter der Präsidentschaft des Appeasers Obama wieder in den Vordergrund hätte rücken sollen. Die innere und äußere Sicherheit des Kontinents wird tatsächlich nur durch eine Zusammenarbeit der europäischen Staaten zu gewährleisten sein. Dass Entsprechendes jedenfalls bislang nicht mehr als bloße Rhetorik darstellt, wird schon durch das fatalistische Achselzucken nach Terroranschlägen und die lächerliche Diskussion über das Zwei-Prozent-Ziel der NATO deutlich. Allein durch pazifistische Wohlfühlfloskeln lassen sich Dschihadisten und die vor den europäischen Außengrenzen lauernden Potentaten nicht von der Wehrhaftigkeit des Staatenverbundes überzeugen.

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Eine gewisse Entrückung von der Realität manifestiert sich in den beiden letzten Punkten des von dem Duo aus Wissenschaftler und Politiker verfassten Opusculums, in denen es um das Einwanderungsgesetz und die soziale Solidarität geht.

Was die Migration aus humanitären Gründen betrifft, so können sich Leggewie und Cohn-Bendit keine quantitative, jedoch eine zeitliche Obergrenze vorstellen, was allerdings wenig originell ist, entspricht dies doch der bestehenden Rechtslage. Asylberechtigte und Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (grob gesprochen: Verfolgte) sowie subsidiär Schutzberechtigte (ebenso vereinfacht ausgedrückt: Bedrohte) sollen gerade nicht in das Aufnahmeland einwandern, sondern dessen Schutz nur so lange in Anspruch nehmen, wie der Verfolgungs- oder Bedrohungstatbestand andauert.

Dieser Umstand wurde indessen durch praktische und ideologische Vollzugshindernisse dahin verschleiert, dass die Migration aus humanitären (in bestimmten Fällen: vorgeblich humanitären) Gründen die zahlenmäßig wenig relevante Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ersetzen sollte. Dieser Traum ist krachend an der Klippe namens Wirklichkeit zerschellt, da lediglich eine kleine Minderheit unter den jüngst Herzugekommenen in eine hochentwickelte Wirtschaft zu integrieren ist. Wenn endlich zur Kenntnis genommen würde, dass humanitärer Schutz und Arbeitsmigration zwei völlig verschiedene Sachverhalte sind und dies in der Anwendung der gesetzlichen Regelungen wieder vermehrt seinen Niederschlag fände und auch durch entsprechenden Druck auf die häufig widerstrebenden Herkunftsländer das Bewusstsein dafür gefördert würde, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen vollziehbar Ausreisepflichtige eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit darstellen, wäre viel mehr gewonnen als durch ein Einwanderungsgesetz, in dem möglicherweise durch die Hintertür doch nur wieder das von den Grünen und der Merkel-CDU gewünschte, aber nicht laut ausgesprochene "Wer will, darf rein" in einen Gesetzestext gegossen wird.

Wenn Leggewie und Cohn-Bendit davon sprechen, die AfD sei Profiteur "eines verschobenen Klassenkampfes", in dem die
"Abgehängten" [...] ihre Frustrationen gegen meist noch schwächere Fremde [richten], zu denen sie in den Wettbewerb um Sozialtransfers, preiswerten Wohnraum und Bildungschancen versetzt werden[,]
so ist dies eine viel zu holzschnittartige Erklärung, da die AfD nicht nur vom Prekariat, sondern auch von einer materiell begüterten Bourgeoisie angekreuzt wurde, zu welcher der geringqualifizierte Migrant nicht in ökonomische Konkurrenz tritt. Das einigende Band zwischen den AfD-Wählern dürfte weniger in der sozialen Situation liegen, sondern vielmehr in einer gemeinsamen kulturellen Orientierung. Wie der Politologe Wolfgang Merkel (weder verwandt noch verschwägert) im FAZ.net-Interview zutreffend ausführt, ist die frühere SPD-Klientel zwar in wirtschaftlichen Dingen links, aber in der kulturellen Sphäre rechts verortet. Will heißen: Man ist für Umverteilung von oben nach unten, aber zugleich gegen Multikulti und Genderismus. Dieser Kulturkonservatismus wird von derjenigen Fraktion des Bürgertums geteilt, die dem Ergrünungsprozess der besseren Kreise widerstanden hat. Dieser Unwille gegenüber tiefgreifenden Veränderungen im Mit- und Nebeinander wird nicht dadurch sediert, dass man den einkommensschwachen Schichten billigen Wohnraum und weitere staatliche Leistungen verschafft. Die kulturkonservative Seele kommt erst zur Ruhe, wenn im Bundesbauerntheater nicht nur der Schwank "Leitkulturdebatte" aufgeführt wird, sondern glaubwürdige politische Weichenstellungen zugunsten der Bewahrung des okzidentalen Gepräges dieses Landes erfolgen.

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Abschließend bleibt festzuhalten: Auch Leggewie und Cohn-Bendit verstehen es nicht. Zwar brächte die Schwampel eine erkleckliche Zahl von Leichtmatrosen an Bord und würde sie die Flagge auswechseln. Doch die Kapitänin hielte das Schiff auf Kurs zum grünen Paradies, das sich schon längst als Eisberg entpuppt hat.

Noricus

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