30. Januar 2018

"700 Tage." Ein wenig Zahlenmagie.

Nein, keine mathematischen Tricks, eine Aufaddierung, Quersummen, Faktorierung nach Primfaktoren oder Gödelisierung, keine Gematria (jene antike Methode, mittels der etwa die biblische "Zahl des Tieres" in der Apokalypse des Johannes als Verweis auf konkrete Personen ausgedeutet worden ist, weil den Buchstaben des griechischen Alphabets neben ihrem Laut- auch noch ein Zahlwert eignete), auch nicht jene Spielart der phantastischen Literatur, die sich die Unverständlichkeit mathematischer Formeln und ihre Ähnlichkeit mit magischen Sprüchen zunutzen macht (etwa in L. Sprague de Camp und Fletcher Pratts The Mathematics of Magic von 1940). Nein, viel niederschwelliger: die Zahl selbst als Ankerpunkt, als Signum magischen Denkens gewissermaßen. "Magisches Denken" besteht ja, entre nous soit dit, in der Hoffnung, ein ständiges Sich-vor-Augen-Rufen eines Gegenstandes, einer Situation möge, aller lebensweltlichen Evidenz trotzend, doch eine Wirkung zeitigen. Die psychologische Wirkung sollte nicht unterschätzt werden. Vom beständigen Zählen des Geldbeutelinhalts nimmt dieser nicht zu; das beständige Voraugenführen eines Zeitraums hingegen ändert die Optik durchaus - vor allem, wenn dieser noch in der Zukunft liegt.

Mit dem heutigen Tag sind es noch genau siebenhundert Tage, bis wir das Jahr 2020 erreichen, bis wir ins dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eintreten. (Eine besonders irreale Färbung erhält dies für Leute, denen "das Jahr 2000" vor seinem Eintreten immer, über Jahrzehnte hinweg, Signum und Wegmarke "der Zukunft" war, ein aufgeladenes Symbol von Zukunftshoffnungen, -ängsten und Projektionen). 700 Tage, also genau einhundert Wochen: Mit jeder verstrichenen Woche liegt ein Prozent der so umrissenen temporalen Reststrecke hinter uns. Ein solche zugegeben leicht mutwillige Optik resultiert zumindest in einem leichten Erschrecken. Rückgeblendet über die gleiche Distanz finden wir uns am 2. März 2016 - sechs Monate nach dem wohl fatalsten Ereignis deutschen Geschichte im 21. Jahrhundert, der mutwilligen und blinden Grenzöffnung durch Frau Merkel, und einen Monat vor Abschluß des so folgenlosen wie hilflosen "Türkeideals" mit der Regierung Erdogan. Und da der Mehltau, der sich über dieses Land, diese Regierung und ihr Handeln gelegt hat, der alles lähmt, der die Akteure wie in einen gefrorenen Schlamm bannt -erstarrt, grotesk, Zerrbilder - nicht etwa, wie an dieser Stelle vor gut Jahresfrist gemutmaßt, "weg ist", aufgebrochen, sondern angewachsen ist, bis man nicht mehr sagen, ob unter Mehltau und Verkrustung noch irgendwelche Akteure vorhanden sind, oder ob hier ein gespenstischer Selbstlauf nur noch politisches Handeln imitiert, daß nichts mehr darunter ist, das noch reanimiert werden könnte - gibt eine solche Optik eine Gewißheit: daß in dieser kurzen Zeit nichts mehr an nennenswertem Handeln erfolgen wird, daß das "politische Handeln", das sich in diesem Land nur noch als folgenloses Steigenlassen von Sprechblasen ereignet, in diesem winzigen Zeitraum nicht mehr ändern wird. Dies ist der Sinne dieses "geistigen Exerzitiums" sensu Loyola: schlagartig klarzumachen, daß wir uns, jetzt schon, am Ende eines vergeudeten Jahrzehnts befinden. 


Strikt kalendarisch könnte man einwenden, daß das "neue Jahrzehnt" erst 366 Tage später, am 1. 1. 2021 in seine Rechte eingesetzt wird. Dennoch spielen in dieser letztlich arbiträren, (eben: zahlenmagisch) unterfütterten Aufteilung nach Jahrzehnten und Jahrhunderten auch andere Aspekte mit hinein als nur die der strikten Zählung. Der Streit, ob eine "Jahrhundertwende" mit dem Umschlag des Zählers auf den nächsten Hunderter beginne oder erst mit dessen nächstem Takt, ist so alt wie die Erfindung der "Jahrhundertwende". Die erste Jahrhundertwende, die überhaupt als solche registriert worden ist: als ein Punkt in der Zeit, ab dem zumindest kalendarisch eine Seite umgeschlagen wird, fällt in das Jahr 1700: ironischerweise als einsame Erwähnung eines englischen Adligen vom April 1700, der einem Freund in einem Brief zum neuen Jahrhundert gratuliert, um dann sofort in Zweifel zu verfallen: beginnt das nicht erst in einem Jahr? (Das Vorkommnis hat eine weitere Volte, wenn man weiß, daß bis zum Ende der 1740er Jahre in England der Jahreswechsel erst mit der Frühlings-Tagundnachtgleiche, also am 21. März erfolgte; was zu Irritationen unter Literaturhistorikern führen kann, wenn etwa ein Dokument auf den "3 March 1710/11" datiert ist: es stammt von 1711, nicht -10.) Der Umschlag ins 19. Jahrhundert wurde noch rein kalendarisch vermerkt, so er denn überhaupt von Belang war. Erst der Übergang ins 20., mit seinem Versprechen von Moderintät, von Elektrizität, von Zukunftstechnik, mit seiner Aufladung nach "Zukunft!" war ein allgemeines Ereignis, grundiert mit den Phantasien, der ins Dekadente gedrehten Selbstpersiflierung der Bürgerlichen Gesellschaft in den parfümierten Schwaden des fin de siècle. Schon dabei gab das Jahr 1900 den Takt an, nicht 1901, und die Einwände erbsenzählender Pedanten blieben, nun, peanuts. Bei der wohl letzten als solche registrierten Jahrhundertwende, dem Millenium des Jahres 2000, gab es nie einen Dissens. (Als letzte - welche Ironie in einer Reihung mit zwei Elementen - dürfte sie deswegen in die Mentalhistorie eingehen, weil "die Zukunft", an deren Imagination, als individuelle oder kollektive Projektionsfläche von Erwartungen und Ängsten - und an deren Erfahrung sie gekoppelt ist, sich aufgelöst hat. Nicht in dem Sinn, daß sie nicht existieren wird - natürlich wird das Jahr 2030, 2050, 2100 vorbeischauen. Aber es gibt keine irgendwie geartete Erwartungshaltung mehr für diese reinen Zahlwerte, keine Bilder, keine Chiffren, mit denen etwa die Science Fiction über Jahrzehnte hinweg arbeiten konnte. Seit über 30 Jahren ist "die Zukunft" nur noch mit den Angstbildern des Alarmismus besetzt, mit primären Bildern des Verhängnisses, zuletzt und am nachhaltigsten geronnen im Phantom der "globalen Erwärmung": als Strafgericht für menschliche Verfehlungen, immer gleichbleibend, immer nur in raunenden Tönen beschworen und zu jedem Zeitpunkt 30 Jahre in der Zukunft liegend. Damit ist, wie beim Betrachten auffällt, gar kein konkreter befürchteter Zustand gemeint: wie sähe denn die Welt aus, wenn die durchschnittliche Temperatur wirklich um die unendlich oft erwähnten zwei Grad stiege? Welche konkreten Folgen hätte ein Meeresspiegelanstieg von zwei Metern? Gäbe es möglicherweise recht triviale Maßnahmen, sich daran anzupassen? Nichts davon. Zudem gibt es kein "danach": wie sähe die Welt aus, wenn sie 20 oder 100 Jahre damit leben müßte? Hat sich die Menschheit nicht - und das im Rückblick: spielend - an sehr viel drastischere Veränderungen ihrer Lebens- und Umwelt angepaßt? Und warum soll die technische Ingenieurskunst vor Veränderungen auf einmal versagen, die, für den einzelnen nicht gravierender wären als etwa ein Umzug von Nordeuropa in die subtropische Schwüle Singapurs? Statt dessen wird diese einzig verbliebene Fixmarke aus dem Ideenkorb "Zukunft" als beständige Mahnung und Warnung wie eine Monstranz des ökologisch-korrekten Lebens gehandhabt: als Strafe für gelebte Sünden, als ultimative Höllenpein. Der "Chronotop Zukunft" ist hier an seinen ursprünglichen, religiösen Ursprung zurückgekehrt. Nach der Erfahrung der technologischen Veränderung und dem Versuch, dafür Symbole und Bilder zu finden, hat das magische Denken der eschatologischen Apokalypse diesen Imaginationsraum wiederbesetzt.)

Für die einzelnen Jahrzehnte lag die Trennschärfe ohnehin niemals in der Weise fest, wie sie den Jahrhunderten eignete. Zu fließend waren die Übergänge im Lebensgefühl, der Hintergrund des politischen Geschehens, der sich überlappenden Entwicklungen. Einem Ondit zufolge begannen in den Vereinigten Staaten die Sixties mit ihrem Aufbruch, der Rockmusik, und dem Jugendirresein mit dem Attentat auf John F. Kennedy im November 1963 und endeten mit dem Rücktritt von Präsident Nixon im Juni 1974. Wer auf solche Symbolik hält, wird den Beginn des 21. Jahrhunderts, den Wechsel des Weltgeschehens von alten auf neue Gefährdungen, unweigerlich auf Nine Eleven, den 11. September 2001, taxieren - so wie es auch Historiker gibt, die das "lange neunzehnte Jahrhundert" mit dem Beginn der französischen Revolution ansetzen und es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs enden lassen. Die Grenzöffnung vom Anfang September 2015 markiert, zumindest für Europa, unzweifelhaft eine Zäsur von gleicher Größenordnung (und, so steht zu befürchten, von mindestens ebensolcher Katastrophalität). eine Scheidung der Geschichte, also der verstrichenen Zeit, in ein Vorher und ein Nachher, aus dem es kein Zurück mehr gibt.

Gleichzeitig läßt sich eine paradoxe Auswirkung auf das Zeitgefühl konstatieren. Zum einen der Eindruck der unendlichen Zähigkeit, der Erstarrung, für die oben das Bild des gefrorenen Schlamms gewählt wurde, der nicht minimalen, sondern schlicht nicht vorhandenen Ergebnisse des Handelns der Politik in diesem Land, im Kielwasser der Septemberwahl, der Eindruck, daß es auf keiner Seite der Parteien irgendein Interesse daran gibt, eine Regierung zu bilden und Handeln und Entscheidungen zumindest zu simulieren. Zum anderen eine fahrige, nervöse Ungeduld, etwas, das man, als weitere Metapher, "mentales Sodbrennen" nennen könnte: die Dehnung des Monate und Tage zu einer Erwartung einer Entscheidung, irgendeiner, egal welcher - solange sie nur den gruseligen Schwebezustand beendet. Und zu der es, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat für Monat, nicht kommt. Das Bild des Geldbeutelinhaltszählens des Auftakts verdankt sich diesem  Mahlen im Sand der Zeit: wenn ich eine endlose, unbestimmte Zeit in einem Erwartungszustand verharre, an dessen Ende sich mein Leben womöglich verändern wird, dann macht es durchaus einen Unterschied, ob ich einen Zeitmesser vor mir habe, an den ich das genaue Verstreichen der Zeit ablesen kann. Der Zeitraum bleibt natürlich der gleiche; aber ich habe ein verläßliches Maß für die abgelaufene Zeit, temporäre Kilometersteine, geistige Wegmarken, die mir ohne ein solches Werkzeug fehlen, die andernfalls nur eine nebulöse, nicht meßbare Größe darstellt. Genau diese Planlosigkeit, dieses "ohne Plan, ohne Termine"-Auf-der-Stelle-treten erzeugt die gegenstrebige Dehnung der Gegenwart. Ernst Benz hat 1977 auf dieses Phänomen in seinem Aufsatz "Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem" hingewiesen. Es gibt erweislich Zeitabschnitte der Geschichte, die von den Beteiligten als feststehend, unveränderlich, als zähe Wiederkehr des Immergleichen empfunden werden: als "bleierne Zeit", um den Ausdruck von Margarete von Trotta zu nennen. Und es gibt Abschnitte, in denen die Zeit rasend wird, in der die Ereignisse sich überstürzen, in der alles möglich scheint. Benz nennt, nicht verwunderlich, die Französische Revolution und die Monate vor ihr als Beispiel, natürlich auch das Jahr 1968. Die Wende, kuliminierend im Mauerfall, konnte er natürlich nicht voraussehen. (Benz nennt auch den Preis, der sich unweigerlich nach solchen Fieberepisoden, einstellt: das Gefühl, daß der Umsturz nicht geschafft worden sei, daß die Umwertung aller Werte, die neue Welt und der neue Mensch, ausgeblieben sei und der alte Zeitverlauf wieder greife: ein Gefühl der Vergeblichkeit, der Erschöpfung und Enttäuschung - selbst wenn, objektiv gesehen, jedes Anzeichen auf eine grundlegende Wendung zum Besseres weist. Die Lebenserfahrung, das Lebensgefühl in den "fünf neuen Bundesländern" während der ersten zehn Jahre nach dem Mauerfall dürfte diesen Befund in jeder Hinsicht bestätigt haben.) Nun - von einer solchen Epochenerfahrung soll im hier fokussierten Zeitraum - 700 Tage - nicht die Rede sein. Es bleibt aber unabweislich, daß das Gefühl des Erstarrten, der Lähmung, der ewigen Wiederkehr der immergleichen Nullnachrichten - eine extreme Dehnung des subjektiven Zeitempfindens nach sich zieht. (Ein winziges Beispiel: Die SPD hat sich vor einer Woche, am 22. Januar, dazu entschlossen, ihre Mitglieder zur Zustimmung für die - irgendwann - anstehende Große Regierungskoalition zu befragen: für diese Woche war die Bekanntgabe des Termins dafür angesetzt; doch nein: einzig ein "Stichtag" ist heute genannt worden, der 6. Februar, ab dem später eingetretene Parteigenossen nicht mehr stimmberechtigt sein sollen. Man muß sich das einmal klarmachen: diese Politik ist buchstäblich nicht mehr in der Lage, ein in organisatorischer Hinsicht absolut triviales Ereignis wie eine Mitgliederbefragung anzusetzen.) Auf Facebook-Freundeslisten (es ist nun einmal das weitverbreitestes soziale Medium) findet sich, mehr und mehr, ein schierer Überdruß, sich diesem Geisterbahntreiben überhaupt noch auszusetzen, Weigerungen, Nachrichten aus Deutschland - und die "Politik" hat jede andere Facette des Geschehens in diesem Land überdeckt (auch das ein sicheres Kennzeichen einer rein ideologisch bestimmten Gesellschaft) - überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen. Das Paradox der extrem gedehnten subjektiven Zeit bei gleichzeitigem rasenden Verstreichenlassen, beim sinnlosen Verschwenden begrenzten temporärer Ressourcen, ist eine der Erfahrungen, die sich später - wenn und falls sich dieser Zustand noch einmal ändern sollte (daß man nicht ernsthaft erwartet, daß er das noch einmal tun würde, daß die Zeit "in ihr altes Gleis zurück" kehrt, darf man als weitere Facette unseres Limbus ansehen) nie an die vermitteln lassen wird, die es nicht selbst erlebt haben..





Ulrich Elkmann

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